Novas Phantom mit seinen 99 Zellen ist ein extremes Beispiel für den Trend, die Schirmleistung mit hohem technischen Aufwand steigern zu wollen. Doch machen viele Zellen immer Sinn? 
Der Prototyp eines von Hannes Papesh entworfenen Schirmes mit mehr als 80 Zellen. Laut Planung soll der Schirm
als EN-A zugelassen werden, aber die Leistung eines EN-C besitzen.  // Quelle: H. Papesh

Eins vorneweg: Dieser Text ist weder ein Testbericht über den Phantom, noch soll er ein Urteil über dessen Leistungsfähigkeit abgeben. Derlei Aussagen mögen andere Piloten nach vielen Flugstunden und Streckenkilometern liefern. Hier geht es darum, das Phänomen zu verstehen, für das der Phantom exemplarisch steht. Denn in den vergangenen Jahren ist zu beobachten, dass viele Gleitschirmhersteller ihre neueren Modelle mit mehr Zellen ausstatten als die Vorgänger. Irgend etwas muss es also bringen, die Zellenzahl der Schirme zu erhöhen. Oder ist es nur teure Kosmetik für das Ego der Piloten?

Die Entwicklung der Zellenzahl über die Modellreihen hinweg
bei einigen typischen EN-B-Schirmen.
Fragt man bei diversen Konstrukteuren nach, so ergibt sich ein einheitliches Meinungsbild: Ja, mehr Zellen pro Schirm können einen Leistungsgewinn bringen, müssen sie aber nicht unbedingt. Denn entscheidend sind – wie so oft im Gleitschirmbau – die kleinen Details.

Die Vorteile einer Zellvervielfachung liegen vor allem in einer höheren Profiltreue. Je mehr Zellen ein Schirm besitzt, desto weniger spielt das Ballooning, also das Aufwölben des Stoffes, eine Rolle. Die Konstruktion wird sich in der Luft stärker dem vom Konstrukteur eigentlich intendierten „Idealprofil“ annähern. Die zusätzlichen, von vielen Diagonalen abgespannten Rippen und die dichter stehenden Stäbchen in der Eintrittskante machen den Vielzeller-Flügel zudem etwas steifer. Turbulenzen bringen ihn weniger aus der Form. Die Bewegungsenergie der Luft wird dann zu einem größeren Anteil in Auf- und Vortrieb umgesetzt, anstatt in mechanischer Verformung des Schirmes nutzlos zu verpuffen.


Mehr Zellen – mehr Falten
Ein solcher Gleitschirm wird aber nicht zwangsläufig besser fliegen. Die Vervielfachung der Zellen bringt auch aerodynamische Nachteile mit sich. Am Rand der Zellen, dort wo das Ober- bzw. Untersegel an die Profile genäht wird, gibt es immer Falten. Je mehr Zellen ein Schirm besitzt, desto größer kann der Anteil dieser welligen Bereiche an der Gesamtfläche des Flügels sein. Das stört die Strömung und erhöht den Formwiderstand. Unterm Strich, so erklärt Luc Armant, Konstrukteur bei Ozone, könnte die Erhöhung der Zellenzahl eines Schirmes die Gleitleistung sogar verringern. Zumindest in ganz ruhiger Luft könnte das spürbar sein. Erst wenn es turbulenter zugeht, wird der Vielzeller die größere Steifigkeit der Kappe als Stärke ausspielen können.

Ein Konstrukteur muss also Vor- und Nachteile abwägen, wenn er die Zellenzahl eines Schirmes festlegt. Dabei stellt sich auch die Frage, welche Piloten-Zielgruppe er mit einem Schirm ansprechen will. Wenig erfahrene Flieger werden sich in der Regel unter einem gedämpfteren Flügel wohler fühlen, weil der Schirm viele Turbulenzen schluckt und nicht als Schläge nach unten weitergibt. Allein aus dieser Sicht heraus erscheint die versteifende Zellvervielfachung bei Schirmen niedrigerer Klassen wie EN-A oder EN-B nicht als allgemein opportun. Zumal die vielen Zellen auch noch weitere Nachteile mit sich bringen.

Zum einen ist da die Frage der Leinenabspannung. Die Extra-Zellen müssen ja irgendwie gehalten werden. Um dafür nicht mehr Leinen einsetzen zu müssen, die entsprechend mehr Widerstand erzeugen, bleibt den Konstrukteuren keine andere Wahl, als das Innenleben der Schirme komplexer zu gestalten. Da werden Diagonalen eingezogen, die von einem Leinenansatzpunkt aus nicht nur die nächste, sondern auch noch die übernächste Rippe tragen. Drei-, Vier- und sogar Fünfzell-Überspannungen sind so möglich. Die langen Stofffinger im Inneren bedeuten freilich einen nicht zu unterschätzenden Aufschlag an verbautem Material.


Das komplizierte Innenleben eines Nova Phantom.
Schmale, streifenförmige Diagonalen reichen durch
stark ausgeschnittenen Rippen hindurch, um mehr Zellen
zwischen den Aufhängepunkten abzuspannen.
// Quelle: Nova
Zwang zum Leichtbau
Nimmt man noch die vielen zusätzlichen Rippen hinzu, kommt schon einiges an Mehrgewicht zusammen. Eine Kappe, die sieben Kilogramm auf die Waage bringt, ist heute aber nicht mehr zeitgemäß, zumal die zusätzliche Masse auch die Schirmreaktionen bei Klappern verschärft. Die Konstrukteure sind deshalb umso mehr zum Leichtbau gezwungen, je mehr Zellen sie einem Schirm verpassen wollen: Leichte Stoffe; stark ausgeschnittene Rippen und Diagonalen; selbst die Nahtzugaben am Rand der Stoffbahnen werden auf ein Minimum reduziert.

Bei ordentlicher Planung muss die Festigkeit darunter nicht leiden. Aber all das wirkt sich vor allem auf eines aus: Material- wie Herstellungsaufwand steigen und damit auch der Preis – und zwar sowohl absolut wie relativ betrachtet. „Absolut“ meint den Stückpreis eines Schirmes, und „relativ“ die für diesen Wert erhaltene Flugleistung. Eins sollte klar sein: Ein doppelt so teurer Leichtbauschirm mit der doppelten Anzahl von Zellen wird weder doppelt so gut fliegen noch doppelt so lange halten.

„Die Kunst beim Gleitschirmbau ist, mit möglichst wenig Material, Kosten und Aufwand den besten Kompromiss zwischen Leistung, Sicherheit, Gewicht und Ästhetik zu erreichen“, sagt Michael Nesler, der für Swing Schirme konstruiert. Seiner Meinung nach bringt es in puncto Leistung kaum noch etwas, bei einem Schirm mit den im EN-B-Bereich üblichen Spannweiten die Zahl der Zellen deutlich über 50 zu steigern.


Premiumsegment als Ziel
Nova setzt beim Phantom freilich auf eine andere Philosophie. „Im Pflichtenheft des Phantom stand, dass die Fertigungskosten keine Rolle spielen sollen“, sagt Konstrukteur Philipp Medicus. „Anstoß für die Realisierung war die Neugierde, was denn in dieser Streckungsklasse möglich ist, wenn man die technologischen Möglichkeiten ausreizt.“ Herausgekommen ist ein EN-B-Schirm mit 99 Zellen und einem Listenpreis von 6450 Euro (siehe auch das Lu-Glidz Interview mit Philipp Medicus: Interna von einem Phantom).

Hinter diesem Ansatz steht freilich noch eine andere Überlegung: Lässt sich im Gleitschirmmarkt ein Premiumsegment etablieren? „Mir fallen keine vergleichbaren Produkte ein, bei denen verschiedene Preissegmente nicht völlig selbstverständlich sind“, sagt Philipp Medicus. „Man kann sich zum Beispiel ein Rennrad um 1000, um 4000 oder um 8000 Euro kaufen. Die bisherige Gleitschirmwelt ist da die absolute Ausnahme. Ich vermute aber, dass sich das nachhaltig ändern wird.“

Triple Seven experimentiert bereits mit Wettkampf-
Schirmen, die 150 Zellen besitzen.
Das Foto zeigt einen Prototypen.
// Quelle: Paraglidingforum, Dean Lozei
Es geht also nicht nur um Leistung. Es geht auch um Exklusivität, es geht um Image. Und es gibt sicher eine Pilotenklientel, die das nötige Kleingeld hat und bereit ist, es auch für solche Schirme auszugeben.

Interessant wird die Frage, wie andere Marken auf den Vorstoß Novas reagieren. Werden sie mit eigenen vielzelligen Premium-Schirmen in den unteren EN-Klassen nachziehen?

„Wir schließen das nicht aus, wenn wir einen ausreichend großen Markt für derlei Schirme sehen“, sagt Luc Armant von Ozone. Hannes Papesh, Designer für Advance, wirkt da sogar schon entschiedener. „Ich bin da seit Monaten dran“, sagt er. Ende des vergangenen Jahres, also noch weit vor der Präsentation des Phantom durch Nova, waren in Monaco Prototypen eines von Papesh als EN-A konzipierten Schirmes mit mehr als 80 Zellen zu sehen. Als Schulungsmodell ist er freilich nicht gedacht. Der Schirm soll dem Piloten Leistung und Handling eines C- mit dem Sicherheitsniveau eines A-Schirmes bieten. Ob und wann so ein Modell auf den Markt kommt, ist derzeit nicht bekannt.


Sind Vielzeller unökologisch?
Eine Frage, die angesichts der technischen Faszination von Schirmen mit vielen Zellen erst einmal wenig bedacht wird, dürfte in Zukunft an Bedeutung gewinnen. Wie nachhaltig sind solche Konstruktionen? Bei einem so komplex aufgebauten 99-Zeller wie dem Phantom mit seinen über 3000 Einzelteilen fällt zwangsläufig enorm viel Verschnitt des Stoffes an, sprich: Abfall.

„Der Phantom dürfte aktuell der unökologischste Single-Gleitschirm der Welt sein“, unkt Bruce Goldsmith, Chef von Bruce Goldsmith Design. Das Konzept, einen Schirm mit extrem vielen Zellen auszustatten, sei für ihn das gleiche wie wenn man ein Auto mit fünf statt zwei Litern Hubraum baut. Es sei die einfachste Möglichkeit die Leistung zu steigern. „Wenn man aber einen kleinen Motor einsetzt, ist das ökologischer, ökonomischer und am Ende der bessere Weg“, so Goldsmith. Einen Gleitschirm mit besonders vielen Zellen müsse man nicht zwangsläufig als Fortschritt betrachten.

Werden das auch die Piloten so sehen? Oder könnte der Phantom gar Begehrlichkeiten wecken, künftig auch bei Schirmen der Brot- und Butterklasse weiter an der Zellenschraube zu drehen? „Mehr Zellen einzubauen ist einfach“, sagt Michael Nesler. Wenn der Markt das so wolle, würden die Hersteller sicher liefern.


Gehört Downsizing die Zukunft?
Dass die Zellvermehrung bei den Schirmen sich tatsächlich in der Breite fortsetzt, ist allerdings nicht unbedingt zu erwarten. Dem steht vor allem das Kostenargument entgegen. Schon jetzt bekommen die Hersteller zu spüren, dass viele Piloten nur eingeschränkt bereit sind, die mit den komplexeren Konstruktionen und teureren Leichtmaterialien verbundenen Mehrkosten von Neu-Schirmen voll zu tragen. Die Gewinnmargen sinken.

Zwingen steigende Produktionskosten in Asien die Hersteller künftig dazu,
Schirme mit geringerem Nähaufwand zu bauen? Das Foto zeigt die
Advance-Produktion in Vietnam // Foto: Q. Mattingly, Advance
In Zukunft dürfte sich diese Situation noch verschärfen. Denn in Asien, wo die meisten Schirme genäht werden, steigt seit Jahren das Lohnniveau, und zwar schneller als in Europa. Noch ist die Produktion in Asien deutlich günstiger, doch in den kommenden Jahren wird sich diese Kostenschere weiter schließen.

„Ein Pilot aus der Mittelklasse wird sich kaum alle zwei Jahre einen so komplexen Schirm wie einen Enzo 2 oder einen Phantom leisten können, wenn dieser zu westlichen Arbeitskosten produziert wird“, sagt Luc Armant. Allerdings sei das Gleitschirmfliegen schon heute kein Hobby für die Massen. Vielleicht werde es in Zukunft noch mehr zu einem Elite-Sport.

Schirme wie der Phantom könnten zu Kristallisationspunkten einer solchen Entwicklung werden. Vielleicht stellen sie aber auch nur die extremen Auswüchse vor einem Wendepunkt dar. So wie im Design moderner Automotoren heute das Downsizing, die Verkleinerung des Hubraums bei gleicher Leistung, im Fokus steht, könnte auch im Gleitschirmbau dem Prinzip der Reduzierung die Zukunft gehören. Dafür wären freilich auch neue konstruktive Lösungen gefragt, um mit weniger Zellen und bestenfalls ganz ohne Ballooning und Faltenwurf der Segelflächen auszukommen, um dann keine Abstriche bei der Leistung machen zu müssen.


Hinweis: Dieser Text ist kürzlich im DHV-Info (Nr. 202, S. 50ff.) erschienen. Dies ist eine für Lu-Glidz leicht aktualisierte Fassung. Sollte Dir die Lektüre gefallen haben, kannst Du Lu-Glidz für weitere derartige Recherchen als Förderer unterstützen.